Der heimliche Blick

Der heimliche Blick

Es gibt sie, diese Momente in der Kunstgeschichte, die uns heute die Röte ins Gesicht treiben. Nicht etwa, weil wir prüde geworden wären — ganz im Gegenteil. Wir erröten, weil wir uns ertappt fühlen. Als hätten unsere Vorfahren uns dabei erwischt, wie wir heimlich durch ein Schlüsselloch spähen.

Lesezeit: 3 Min.

Nehmen wir Jean-Honoré Fragonards "Die Schaukel" von 1767. Da schwingt eine Dame der französischen Gesellschaft vergnügt durch die Lüfte, während im Gebüsch — welch Zufall! — ein junger Edelmann liegt.

Sein Blick wandert genau dorthin, wo das pastellfarbene Kleid im Schwung nach oben weht. Er streckt seinen Hut aus, als wolle er einen besonders köstlichen Moment einfangen.

© 1767 Jean-Honoré Fragonard "Die Schaukel"

Die Kunsthistoriker nennen es "Galante Szene". Dabei ist es nichts anderes als die aristokratische Version dessen, was Jahrhunderte später puber­tierenden Jungs einfallen sollte, wenn sie sich mit Spiegeln an ihre Schuhspitzen experimentierten. Der Unterschied: Fragonard machte daraus große Kunst, während heute jeder Versuch, unter Röcke zu schauen, zu Recht als übergriffig gilt.

Interessant ist, wie sich der gesellschaftliche Blick auf solche Szenen gewandelt hat. Was im Rokoko als pikantes Spiel galt, wurde im viktorianischen Zeitalter zum Skandal. Die gleichen Großbürger, die sich empört die Augen zuhielten, wenn eine Frau beim Treppen­steigen versehentlich den Knöchel zeigte, begeisterten sich im Privaten an Rokokobildern mit ähnlich frivolen Szenen. Die Kopien solcher Werke waren in manchem Privatgemach zu finden.

Die Geschichte des heimlichen Blicks ist auch eine Geschichte der Doppelmoral. Heute leben wir in einer Zeit, in der das Smartphone zur Waffe werden kann. In den Metropolen Ostasiens — wo das Problem besonders groß wurde — hängen in U-Bahnen mittlerweile Warnschilder, die vor "Upskirting" warnen.

Man möchte den Kopf schütteln über die Tatsache, dass solche Warnungen überhaupt nötig sind.

Und doch hängt Fragonards Meisterwerk noch immer in der Wallace Collection in London. Millionen Besucher bewundern jährlich seine Künstler­fertigkeit, seine Farbgebung, seine Kompo­sition. Nur wenige gestehen sich ein, dass sie insgeheim die gleiche voyeuristische Neugier verspüren wie der junge Mann im Gebüsch.

Vielleicht liegt darin eine gewisse Ironie: Was einst als kunstvolle Frivolität galt, ist heute ein Straftatbestand. Was früher gesellschaftsfähig war, landet heute vor Gericht. Nur in der Kunst dürfen wir noch schmunzelnd den Kopf schütteln über die frivolen Späße unserer Vorfahren. Und heimlich denken: Waren sie vielleicht ehrlicher als wir?

Die junge Dame auf der Schaukel übrigens scheint zu wissen, was sie tut. Ihr verschmitztes Lächeln spricht Bände. Sie ist nicht Opfer, sondern Regisseurin dieser Szene. Während ihr Begleiter im Hintergrund brav die Schaukel schwingt, bestimmt sie, wer was zu sehen bekommt. Eine frühe Form der weiblichen Selbstbestimmung? Oder doch nur das männliche Wunschdenken eines Rokokomalers?

Die Antwort bleibt, wie der Blick unter den Rock, im Verborgenen. Was bleibt, ist große Kunst. Und das leicht beschämte Gefühl, dass wir alle ein bisschen Voyeure sind, wenn wir ins Museum gehen.

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