Nehmen wir Jean-Honoré Fragonards "Die Schaukel" von 1767. Da schwingt eine Dame der französischen Gesellschaft vergnügt durch die Lüfte, während im Gebüsch — welch Zufall! — ein junger Edelmann liegt.
Sein Blick wandert genau dorthin, wo das pastellfarbene Kleid im Schwung nach oben weht. Er streckt seinen Hut aus, als wolle er einen besonders köstlichen Moment einfangen.
Die Kunsthistoriker nennen es "Galante Szene". Dabei ist es nichts anderes als die aristokratische Version dessen, was Jahrhunderte später pubertierenden Jungs einfallen sollte, wenn sie sich mit Spiegeln an ihre Schuhspitzen experimentierten. Der Unterschied: Fragonard machte daraus große Kunst, während heute jeder Versuch, unter Röcke zu schauen, zu Recht als übergriffig gilt.
Interessant ist, wie sich der gesellschaftliche Blick auf solche Szenen gewandelt hat. Was im Rokoko als pikantes Spiel galt, wurde im viktorianischen Zeitalter zum Skandal. Die gleichen Großbürger, die sich empört die Augen zuhielten, wenn eine Frau beim Treppensteigen versehentlich den Knöchel zeigte, begeisterten sich im Privaten an Rokokobildern mit ähnlich frivolen Szenen. Die Kopien solcher Werke waren in manchem Privatgemach zu finden.
Man möchte den Kopf schütteln über die Tatsache, dass solche Warnungen überhaupt nötig sind.
Und doch hängt Fragonards Meisterwerk noch immer in der Wallace Collection in London. Millionen Besucher bewundern jährlich seine Künstlerfertigkeit, seine Farbgebung, seine Komposition. Nur wenige gestehen sich ein, dass sie insgeheim die gleiche voyeuristische Neugier verspüren wie der junge Mann im Gebüsch.
Vielleicht liegt darin eine gewisse Ironie: Was einst als kunstvolle Frivolität galt, ist heute ein Straftatbestand. Was früher gesellschaftsfähig war, landet heute vor Gericht. Nur in der Kunst dürfen wir noch schmunzelnd den Kopf schütteln über die frivolen Späße unserer Vorfahren. Und heimlich denken: Waren sie vielleicht ehrlicher als wir?
Die junge Dame auf der Schaukel übrigens scheint zu wissen, was sie tut. Ihr verschmitztes Lächeln spricht Bände. Sie ist nicht Opfer, sondern Regisseurin dieser Szene. Während ihr Begleiter im Hintergrund brav die Schaukel schwingt, bestimmt sie, wer was zu sehen bekommt. Eine frühe Form der weiblichen Selbstbestimmung? Oder doch nur das männliche Wunschdenken eines Rokokomalers?