Perfektion ist wie ein Horizont — je näher wir ihr kommen, desto weiter entfernt sie sich. In der Fotografie sehen wir dies besonders deutlich: Schärfere Sensoren, bessere Objektive, ausgefeiltere Bildbearbeitung und neuerdings KI. Doch sind die Bilder dadurch besser geworden? Oder verlieren wir dabei genau das, was ein Bild lebendig macht? Seine Seele.
Unsere eigene Existenz ist von Natur aus unvollkommen. Wir haben asymmetrische Gesichtszüge, unterschiedliche Gangarten, individuelle Eigenheiten. Von Pickeln und Falten ganz zu schweigen. Aber genau diese "Makel" machen uns doch menschlich und einzigartig, auf jeden Fall aber nahbar. Sie schaffen Vertrautheit und ermöglichen ein Gefühl von Verbundenheit.
Das ist mir immer besonders wichtig in meinen Aufnahmen. Dass der Betrachter eine Situation nachvollziehen kann oder sich in eine Szenerie hinein versetzen möchte. Und dass er ein Begehren für die gezeigte Frau entwickeln kann, weil sie zwar perfekt ausschaut, aber eben nicht unrealistisch perfekt. Das ist schwer zu erklären: Aber es gibt sicherlich Abstufungen der Perfektion. Und hier sind wir Menschen in der Wahrnehmung sehr sensibel.
Aber zurück zur Fotografie: Die Psychologie kennt das Phänomen des "Uncanny Valley" — wenn etwas zu perfekt erscheint, wirkt es unheimlich und abstoßend. Dies gilt nicht nur für Roboter und künstliche Intelligenz, sondern auch für Bilder und Kunst. Ein zu perfektes Porträt kann leblos und steril wirken, während eine leicht verwackelte Aufnahme mehr Dynamik und Lebendigkeit vermittelt.
Ich erinnere mich noch gut daran, als ich vor vielen Jahren ein Modell fotografierte, das eine etwas zu große Nase (wer bestimmt das?) hatte und ein Freund von mir, regelrecht verliebt in die unperfekte Nase war. Das klingt seltsam, aber so haben doch viele von uns Vorlieben, die mit dem Ideal von Perfektion überhaupt nicht zusammen gehen.
Die japanische Ästhetik des Wabi-Sabi lehrt uns die Schönheit des Unvollkommenen, Vergänglichen und Unvollständigen zu schätzen. Ein angeschlagenes Gefäß kann mehr Geschichte und Charakter besitzen als ein makelloses Exemplar. Übertragen auf die Fotografie bedeutet dies: Ein technisch imperfektes Bild kann eine stärkere emotionale Resonanz erzeugen als eine technisch einwandfreie Aufnahme. Das gilt natürlich nicht immer und nicht jedes schlechte Foto kann man auf diese Weise aufwerten. Aber vielleicht verstehen Sie meinen Punkt.
Als Fotografen können wir lernen, Imperfektion als gestalterisches Element zu nutzen. Zum Beispiel, indem wir Bewegungsunschärfe als Ausdruck von Dynamik einsetzen. Dies möchte ich zumindest in Zukunft mehr machen. Bislang habe ich ja sehr häufig Gegenstände wie Prismen vor meine Linsen gehalten.
Und oft habe ich in meinem Blog auch schon über das gute alte Filmkorn und die Körnigkeit als Stilmittel geschrieben. Alles, was das Digitale und Perfekte aus Fotos abmildert und Überraschung bietet.
Die Kunst liegt nicht darin, sich für Perfektion oder Imperfektion zu entscheiden, sondern eine Balance zu finden.
Technische Fähigkeiten sind sowieso wichtig, aber sie sollten uns dienen, nicht beherrschen. Wir sollten bewusst entscheiden, wann Perfektion dienlich ist und wann "Fehler" ein Bild bereichern.
Das Unperfekte ist menschlicher, weil es ehrlicher ist. Es spiegelt unsere eigene Natur wider und schafft damit eine tiefere Verbindung zum Betrachter. In einer zunehmend digitalisierten und perfektionierten Welt wird diese Authentizität immer wertvoller, davon bin ich überzeugt.