Sensibelchen: Eine Ehrenrettung

Sensibelchen: Eine Ehrenrettung

Was Großmutter noch als Charakterschwäche abtat, entpuppt sich heute als besondere Gabe: Sensibilität. Ich nehme Sie mit auf eine Entdeckungsreise in die Welt der geschärften Sinne und zeige, warum wir dringend aufhören sollten, "Sensibelchen" als Schimpfwort zu verwenden.

Lesezeit: 2 Min.

Neulich in einem Aufzug: Eine Frau summt leise "Girl from Ipanema", während sie auf den achten Stock wartet. Der Mann neben ihr lächelt plötzlich, seine Schultern entspannen sich unmerklich. Vielleicht erinnert ihn die Melodie an seinen ersten Tanzkurs, an salzige Sommerluft oder an das Café um die Ecke, wo der alte Bassist immer Bossa Nova spielt. Keiner spricht ein Wort, aber für einen Moment teilen zwei Fremde eine ganze Geschichte.

Solche Momente passieren ständig um uns herum. Die meisten Menschen nehmen sie nicht wahr, sie gleiten durch ihren Tag wie durch einen Tunnel. Doch es gibt sie, diese Menschen mit den feinen Antennen, die die Zwischentöne des Lebens empfangen.

Sensibel.

Dieses Wort hat sich in unserer Sprache zu einem Makel entwickelt. Als hätte jemand beschlossen, aus einer Superkraft ein Schimpfwort zu machen. Dabei ist es eigentlich total absurd: Wir leben in einer Zeit, in der Menschen Unsummen ausgeben, um ihre Wahrnehmung zu verfeinern. Sie besuchen Workshops für gewaltfreie Kommunikation, üben sich in Empathie-Training und diskutieren stundenlang über emotionale Intelligenz. Aber wehe, jemand nimmt von Natur aus die feinen Zwischentöne des Lebens wahr — zack, Sensibelchen!

Dabei ist es doch so: Während manche durch ihr Leben poltern wie ein Elefant durchs Porzellan, erfassen sensible Menschen die Welt wie ein fein gestimmtes Instrument. Sie hören den Unterschied zwischen einem müden und einem traurigen Seufzer. Sie spüren, wenn hinter einem Lächeln Tränen lauern. Sie verstehen, dass Stille nicht gleich Stille ist — manchmal ist sie warm wie eine Umarmung, manchmal schwer wie Blei.

Meine Großmutter nannte das früher "überempfindlich". Als wäre diese geschärfte Wahrnehmung eine Art Luxusproblem, wie eine zu empfindliche Haut, die man einfach abhärten müsse. Dabei ist diese Gabe etwa so freiwillig wie die Farbe unserer Augen.

Inzwischen wird klar: Sensibilität ist wie ein hochauflösender Sensor in einer zunehmend grobkörnigen Welt. Ja, manchmal wäre es entspannter, weniger wahrzunehmen. Nicht jede unterschwellige Spannung zu spüren. Nicht zu bemerken, wenn hinter einem "Alles gut" eben gar nichts gut ist. Aber mal ehrlich: Würden Sie freiwillig auf die Fähigkeit verzichten, zwischen den Zeilen zu lesen?

Die wahre Kunst liegt darin, diese Sensibilität nicht als Last zu begreifen, sondern als das, was sie ist: Eine besondere Form der Wahrnehmung, die unsere Welt reicher macht. Denn wer die feinen Nuancen des Lebens erkennt, der sieht nicht nur die Schatten schärfer — er nimmt auch das Licht intensiver wahr.

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